Enkel in Not

1 Der Anruf

Elsbeth legte den Hörer zurück und lächelte leise vor sich hin.

„Der liebe Junge“, murmelte sie.

Die Tür wurde aufgerissen und Brigitte schob ihren Kopf durch. „Wer war das?“
„Du bist aber neugierig, Schwesterlein“, wich Elsbeth aus.
„Ach komm, tu nicht so geheimnisvoll“. Brigitte setzte sich ihrer Schwester gegenüber in den weichen Sessel.
„Na gut, rate!“ Elsbeth lehnte sich zurück und sah ihre Schwester auffordernd an.
„Ah, du bist doof!. War es ein Mann?“
„Warm“, nickte Elsbeth.
„Der nette Berater aus dem Baumarkt?“
„Der war nicht nett, der war aufdringlich. Ganz kalt.“
„Hm, war es privat?“
„Ja. Aber das nützt Dir nichts.“
„Dann frage ich anders weiter – ist er über 60?“
„Du kommst näher. Er ist unter 60.“
„Joi! Habe ich etwas verpasst? Ein Mann, der jünger ist?“
„Jetzt ist es schon wieder ganz kalt! Keine Affäre, kein Liebhaber, kein Verehrer!“
„Hm, unter 60, kein Verehrer, rein privat, also auch kein Klempner oder Schornsteinfeger. Hey, ist es etwa der liebe Jürgen?“
„Du baust ab, früher hättest du es schneller erraten. Ja, mein lieber guter Enkel hat angerufen. Das hat er seit fast zwei Jahren nicht mehr getan. Und er ist in Schwierigkeiten. Er braucht Geld für ein Auto. Ein richtiges Schnäppchen.“ Elsbeth lachte ihre Schwester an.
„Na, sieh mal einer an. Und wie ich dich kenne, hast du ihm das Geld angeboten?“
„Ja, ich kann ihn doch nicht im Regen stehen lassen. Ein Freund holt es um drei ab.“
„Das ist in einer Stunde! Komm, wir räumen schnell das Wohnzimmer auf. Und du musst dich noch zurecht machen.“

Elsbeth stand im Bad und betrachtete sich im Spiegel. Sie fand, dass man ihr die 59 nicht ansah, die sie zugab. Sie strich mit dem Finger über die Riefen an ihren Schläfen und betastete die Haut unter ihrem Kinn, die bedenklich schlaff herabhing. Aber ihr Haar machte sie jung. Dunkelblondes, leicht rötliches Haar in einem flotten Schnitt ließen sie leicht fünf Jahre jünger erscheinen. Sie fuhr sich mit der Hand darüber und riss sich dann mit einem Ruck die Perücke vom Kopf. Hervor kam weißes, schütteres Haar.
„So muss eine Oma aussehen! Was soll der arme Junge denn denken!“ Mit einer Bürste ordnete sie die kurzen Haar schnell und war dann mit ihrem Aussehen zufrieden.
Als sie aus dem Bad kam, stand Brigitte schon bereit und hielt ihr eine Kittelschürze entgegen. Sie selbst trug nun auch eine über ihrer Jeans und dem T-Shirt.
„Du wirkst so altbacken!“ Elsbeth betrachtete ihre Schwester und nahm mit einem leichten Schaudern die zweite Schürze entgegen. Mit ihrer Schwester stellte sie sich vor den Spiegel. „Zwei alte Omas! Wir sind perfekt!“
Schon klingelte es. Elsbeth ging zur Tür und drückte den Summer. Sie öffnete die Wohnungstür und lauschte den Tritten auf den Stufen. Ein blasser, etwa dreißig Jahre alter Mann erschien schnaufend an der Tür. Er nickte den beiden alten Frauen zu und pustete. „Guten Tag“, brachte er mit Mühe heraus. „Ich bin Daniel, der Freund von Jürgen.“
„Aber immer herein, mein Lieber!“ Elsbeth lächelte. „Ein Freund von unserem lieben Jürgen ist uns immer willkommen.“
„Ein Kaffee, Daniel?“ Auch Brigitte war die Liebenswürdigkeit selbst.

2 Der Besuch
Daniel sah irritiert von der einen zur anderen alten Frau. „Sind Sie Jürgens Oma?“, fragte er die jüngere von beiden.
„Nein, das bin ich“, antwortete die andere. „Das ist meine Schwester Brigitte.“ Die alte Frau, deren rosa Kopfhaut durch das dünne weiße Haar schimmerte, hängte sich bei Daniel unter und dirigierte ihn in das Wohnzimmer. 
„Hat denn Jürgen nichts davon erzählt, dass wir zusammen wohnen?“
Daniel beschloss, nichts dazu zu sagen.
„Wie mögen Sie Ihren Kaffee? Milch, Zucker?“, wurde er von Brigitte gefragt.
„Äh, eigentlich hab' ich nicht viel Zeit“, bemühte er sich, abzulehnen. Er musste unbedingt schnell wieder raus. „Ich hab' Jürgen versprochen, das Geld bis vier zum Händler zu bringen, sonst verkauft der die Karre an jemand anderen.“
„Das schaffen Sie leicht. Wir rufen Ihnen ein Taxi und wusch, sind Sie da!“ beruhigte ihn Jürgens Oma und drückt ihn auf das Sofa. Sie selbst setzte sich in einen Sessel in der Nähe der Tür. Brigitte verließ den Raum und Jürgens Oma hob einen Beutel auf den Schoß, aus dem Stricknadeln ragten. Sie lächelte Daniel an.
„Und was machen Sie so?“ fragte sie ihn.
Daniel saß unruhig am Sofarand. Doch der Handarbeitsbeutel und das Alter seiner Gastgeberinnen machten die Situation harmlos. Also entspannte  er sich etwas und lehnte sich zurück.
„Äh, ich arbeite in einer Bank.“ Das sollte seriös genug klingen.
Aufmerksam musterte Jürgens Oma ihn. Ihm wurde bewusst, dass sein nachlässig rasiertes Kinn, sein ungebügeltes T-Shirt unter dem schwarzen offenen Hemd und die abgekauten Fingernägel vielleicht doch nicht so gut zu einem Bankmenschen passten.
„Ach, dann haben Sie mit Jürgen zusammen die Ausbildung gemacht?“
Verflucht, dieser blöde Jürgen war auch Banker? Daniel wurde wieder unsicher, nickte der alten Frau aber zu. Da musste er jetzt durch.
„Arbeiten Sie in der gleichen Bank?“, fragte Jürgens Oma weiter.
„Nein, in einer anderen“, damit war das Thema hoffentlich erledigt.
„Ach, und in welcher?“ Jürgens Oma war ungewöhnlich neugierig.
„Raiffeisenbank in Aurich“, war das erste, was ihm einfiel – die Bank gleich bei ihm um die Ecke.
„Aber das ist doch die selbe Bank, in der Jürgen arbeitet!“, wunderte sich die alte Frau, „oder ist er da weg?“
Mist, das konnte doch nicht wahr sein, war das etwa dieser junge, grinsende Scheißtyp, der ihm den Dispo gekürzt hatte? „Ja, er ist doch zur Deutschen Bank nach Oldenburg gegangen.“
Sie schien keine Ahnung zu haben, was mit ihrem Jürgen los war. Er beobachtete ihre Mimik. Sie sah ihn weiter freundlich an. Also schluckte sie die Geschichte.
„Das hat er mir gar nicht erzählt, aber er ruft ja auch nicht oft an. Wie trägt er denn inzwischen die Haare? Früher ging das ja noch, mit dem Pferdeschwanz, da in der Kleinstadt, aber wenn er nun bei der deutschen Bank ...“
Daniel nickte schnell. “Die Haare hat er ab, er hat jetzt kurze Haare.“
„Merkwürdig“, wunderte sich Jürgens Oma, „warum hat Margret – seine Mutter kennen Sie? – mir nichts davon erzählt beim letzten Anruf? Sie hat ihn immer so bedrängt, dass er die Haare schneiden soll, sie hat sich das so gewünscht.“
„Ist ja auch noch nicht so lange her“, schob Daniel nach. Nur ruhig Blut, dann überstand er das hier.
„Und wie lange kennen Sie Jürgen schon?“
Noch mehr Fragen, was wollte sie denn noch alles wissen? „Noch nicht so lange. Seit drei Jahren.“
„Ach, ich dachte, sie haben die Ausbildung zusammen gemacht, das ist doch viel länger her.“
Schon wieder in die Falle getappt. „Äh, nicht die Grundausbildung, wir waren zusammen auf einem Weiterbildungsseminar.“ Er war gut heute, das war doch eine klasse Antwort.
„Das wusste ich nicht. Was macht denn Jürgens Beziehung? Gibt es immer noch soviel Stress?“
Daniels Stirn wurde langsam feucht. Da musste er sich raus winden, am besten Unkenntnis heucheln. „Wir reden nicht so oft über seine Beziehung, aber ich glaube, seine Freundin hat sich angepasst.“
„Seine Freundin? Aber Jürgen ist doch schwul, daher doch der ganze Stress. Wieso hat er nun eine Freundin?“ Die alte Frau sah ihn mit großen, erstaunten Augen an. Sie schien völlig überrascht zu sein.
Daniel wischte sich die Stirn. Auch das noch. Wieso lag er mit seinen Annahmen über den lieben Jürgen nur immer so daneben? Er verschränkte die Hände. „Äh, er nennt ihn nur so, das ist ein Gag zwischen den beiden.“
Jürgens Oma neigte nun etwas den Kopf und betrachtete Daniel mit einem milden Lächeln. „Kennen Sie auch Jürgens Geschwister?“
„Nein, leider nicht, und ich glaube, ich muss nun gehen. Es wird höchste Zeit.“ Er musste weg hier, bevor er in weitere Fettnäpfchen trat.  Er stand auf. Mit einem Schwung ging die Tür zur Küche auf und Brigitte trug ein Tablett mit Kaffee herein.
„Aber nicht doch, lieber Junge. Setzen Sie sich wieder. Erst mal gibt es ein Tässchen Kaffee.“ Brigitte strahlte ihn an, verteilte die Tassen und schenkte Kaffee ein. Sie nahm neben Daniel Platz. Er fühlte sich merkwürdig umzingelt.
„Stell Dir vor, Brigitte, Daniel hat mit Jürgen eine Weiterbildung gemacht, da haben sie sich kennen gelernt. Und er hat Jürgens Geschwister nie gesehen. Ist das nicht merkwürdig?“ Jürgens Oma begann, in ihrem Beutel zu kramen.
Daniel schwitzte nun richtig. „Danke für den Kaffee, wenn Sie mir vielleicht jetzt das Geld ...“
Er erhob sich, wurde aber von Brigitte wieder auf das weiche Sofa gezogen. Dabei strahlte sie ihn an. Wieso nur wurde ihm unheimlich bei diesem Lächeln?
„Ich finde das nicht merkwürdig.“ Brigitte tätschelte Daniels Hand. „Wo doch Jürgen gar nicht existiert.“
Daniel wurde kalt, er fühlte plötzlich einen Stein in der Magengegend. Was war hier los? Er starrte die Frau neben ihm an. „Äh, wie? Was meinen Sie?“, stammelte er.
„Aber mein lieber Junge, sie hat gar keinen Enkel“. Brigitte zeigte auf Jürgens Oma und drohte dieser mit dem Zeigefinger.
Daniel versuchte aufzustehen, wurde aber von Brigitte am Hosenbund gepackt und in die Polster gedrückt. Woher hatte diese kleine, alte Frau soviel Kraft? Er sah die andere Frau verwirrt an. „Wie? Aber am Telefon ...“
Wieder wurde er von Brigitte unterbrochen „Meine Schwester Elsbeth schummelt manchmal, auch beim Skat! Sie kann richtig gut lügen.“
Er verstand nichts mehr. Was war hier los? „Aber, warum?“
„Ach mein lieber Junge. Wir haben einfach gerne Besuch. Und nun erzählen Sie mal. Bei wie vielen alten Leuten waren Sie heute schon?“
Die wollen nur spielen, schoss es ihm durch den Kopf, die sind einfach einsam und holen sich sogar Betrüger ins Haus, nur um ihren Kaffee nicht alleine trinken zu müssen. „Äh, ich muss jetzt wirklich gehen, lassen sie mich los.“ Daniel sah Brigitte böse an. Das würde wirken, damit würde er sie einschüchtern.
„Meinen Sie nicht, dass Sie uns was schuldig sind? Sie wollten uns um dreitausend Euro betrügen“, das hörte sich nicht eingeschüchtert an. „Da haben wir doch wohl das Recht, ein paar Fragen zu stellen. Also erzählen Sie mal, wie oft haben Sie heute schon den Freund vom lieben guten Enkel gespielt?“ Elsbeth, die nicht mehr Jürgens Oma war, sah ein bisschen weniger freundlich aus.
„Ich sag gar nichts.“ Sollte die alten Weiber doch in ihrem Saft schmoren.
„Oh, schade, dann müssen wir wohl die Polizei rufen. Die Wache ist hier gleich um die Ecke, im Walle-Center.“ Brigitte griff zum Telefon.
Daniel stand auf. „Ich geh' jetzt. Daran können Sie mich nicht hindern.“
„Ach nein?“ Aus ihrem Beutel holte Elsbeth eine Pistole. „Auch nicht hiermit?“ Sie hielt ihm die Waffe entgegen und sah plötzlich irritierend verwegen aus.
Daniel spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. „Was soll das? Vermutlich bin ich hier falsch, mein Freund Jürgen hat sich wohl vertan.“ Er musste raus, sofort. Doch angesichts der Pistole wagte er nicht, aufzustehen.
„Hören Sie auf. Der Enkeltrick ist bekannt, Sie wollten uns abzocken. Das wird nun nichts. Statt dessen möchten wir eine kleine Geschichte von Ihnen hören. Setzen Sie sich wieder, trinken Sie Ihren Kaffee, den hat Brigitte extra für Sie gekocht! Und erzählen Sie: wie viel alte Leute haben Sie heute schon ausgenommen?“
„Sie kann so furchtbar gemein sein.“ Brigitte sah Daniel mit großen, traurigen Augen an. „Als Kind hat sie mir immer das Fahrrad geklaut. Und den letzten Enkeltrickbetrüger hat sie tatsächlich angeschossen!“
Daniel zuckte zusammen und erwiderte unsicher Brigittes Blick. Sein Blick wanderte zu Elsbeth, die ihn wieder freundlich anlächelte und mit der Pistole auf ihn zielte.
„Also ehrlich,“, begann er, „ich mach' das das erste Mal! Wirklich! Meine Mutter ist krank, sie braucht 'ne Behandlung, im Krankenhaus, sonst hätte ich das nie getan!“ Auf die Mitleidstour, das zog immer, gerade bei alten Omis.
Elsbeth beugte sich vor und sah ihn an. Ihr Blick war nun kalt, ihre Freundlichkeit verschwunden. „Oh, Daniel! Was sollen wir nur davon halten? Du warst auf alle Fragen vorbereitet, du hast dich richtig gut geschlagen. Das kann nur auf lange Erfahrung hinweisen.“
Daniel wurde starr. Er sah Elsbeth an, senkte dann aber seinen Blick. Er holte tief Luft und sank dann in seinem Sitz zusammen. Die hatten kein Mitleid, diese alten Drachen.
„Ok, Ok. Ich geb's ja zu. Ich hab heute bei zwei alten Daddys und einem Paar Geld geholt. Ich muss das tun, meine Mutter....“
„Lassen wir deine Mutter aus dem Spiel, Daniel, die interessiert uns nicht.“ Elsbeth wischte Daniels Einwand beiseite. „Und, wieviel hast du verdient bei deinem heutigen Beutezug?“
Kurz  wollte Daniel noch einmal aufbegehren, doch ein Blick in Elsbeths Augen belehrte ihn eines Besseren.
„Zweimal drei, einmal vier Riesen“, presste er durch die Zähne.
„Mein Lieber, dir ist ja wohl klar, dass du das Geld abgeben musst? Wir werden es den Betrogenen zurückgeben.“ Elsbeth wies auf Brigittes ausgestreckte Hand. Daniel gab allen Widerstand auf. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Bündel Scheine und zwei Umschläge heraus. Brigitte schnappte sofort zu. Schnell stand sie auf und verstaute das Geld im Schrank.
„Und nun dein Ausweis!“ Brigitte hielt fordernd ein Hand auf. Daniel seufzte leise und zog aus einer Jackentasche einen Ausweis. Brigitte führte ihn nah an die Augen. „Schau an, Daniel heißt gar nicht Daniel. Kevin Frerichs, aus Aurich.“ Brigitte grinste. Sie notierte Namen und Anschrift.
„So, Daniel. Hier ist dein Ausweis. Sollte in den nächsten Wochen hier irgendwo noch einmal der Enkeltrick benutzt werden, wandern diese Daten sofort an die Polizei, ist das klar? Und wir werden das erfahren, sag' ich dir. Wenn hier in der Stadt alte Leute betrogen werden, steht das am nächsten Tag in der Zeitung. Bremen ist ein Dorf!“ Daniel-Kevin nickte verstört.
„Gut.“ Elsbeth wurde wieder etwas versöhnlicher. „Und nun raus. Verschwinde.“ Sie stand auf und wies mit der Pistole auf die Tür. Er hastete zur Tür, durch den Flur, riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter.

3 Das Ergebnis
Im Wohnzimmer nahm Elsbeth die Scheine von Brigitte entgegen, die sie wieder aus dem Schrank geholt hatte.
„Zehntausend Euro!“, sie freute sich. „Damit kommen wir fast zwei Jahre aus. Und ich kann mir einen neuen Wintermantel kaufen.“
Brigitte sah sie lachend an. „Super. Und ich wollte doch so gerne mal wieder nach Bad Kissingen.“
„Das müssen wir feiern, Biggi! Hol den Sekt!“
Beschwingt tänzelte Elsbeth zur Vitrine und nahm hohe, elegante Sektgläser aus dem Schrank. Brigitte kam mit einer Flasche Sekt aus der Küche.
„Du warst übrigens Klasse, Elsbeth. Wie Bette Davis in Tanz der Hexen! Dein Blick! Jeder wäre eingeknickt, jeder!“
„Danke. Du warst auch nicht schlecht. So überaus harmlos!“ Elsbeth nahm von Brigitte ein Glas Sekt in Empfang. Die Frauen stießen an und prosteten sich zu. „Auf die lieben Enkel, die ihre Großmütter so schön versorgen. Mögen sie niemals aussterben!“

Zwei Tage später saß Elsbeth, diesmal wieder modern gekleidet und mit der verjüngenden Perücke auf dem Kopf, am Küchentisch. Sie blätterte im Weser Kurier. Ein Artikel weckte ihr besonderes Interesse.
„Hey Biggi!“ rief sie in Richtung Wohnzimmer. „Sie warnen vor dem Enkeltrick! In zwei Stadtteilen haben sie – vermutlich unser Daniel ...“ Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich, Brigittes Kopf erschien, Elsbeths Stimmer wurde leiser: „... diese blöden alten Idioten ausgenommen.“
„Zeig.“ Brigitte lief um den Tisch und zog ihrer Schwester die Zeitung weg. „Oh je, einem senilen Kerlchen haben sie alle Ersparnisse abgeluchst. Der hat nix mehr. Ein Fall für mildtätige Engel?“ Fragend sah sie ihre Schwester an.
Elsbeth verzog das Gesicht. „Und mein Wintermantel? Und deine Kur? Warum hat der Schwachkopf nicht aufgepasst? Oder seine Enkel ihn eingesperrt, damit er kein Geld mehr weggeben kann? Soll er doch sehen, wo er bleibt!“
„Hier steht, er ist ein ehemaliger Schauspieler, da müssen wir doch helfen!“
„Nein! Ich brauche den neuen Mantel!“
„Komm, sei doch nicht so. Wir geben ihm die Hälfte zurück. Ein ehemaliger Kollege! Obwohl... Anton Verbender, hab' ich noch nie gehört, du?“
„War der nicht an der Niederdeutschen? Diese plattdeutschen Komödien? Ja! Am Anfang sogar der jugendliche Liebhaber, ein Star bei den alten Tanten. Ich hab da auch mal eine Saison lang gespielt, als dritte Magd.“
„Na siehste. Lass uns ihm helfen. Alles weg, das tut man nicht.“
„Gut, ich überleg's mir. Aber mehr als Tausend kriegt er nicht.“
Brigitte schien zufrieden. Sie nickte und wollte gerade die Küche verlassen, als das Telefon klingelte.
„Ich geh' schon“, rief Brigitte und hastete zum Telefon.
„Brigitte Somberg“, meldete sie sich. „... wer da ist? Ja, bist du das, Jürgen? Ach, das ist ja eine Überraschung! Dass du dich mal bei deiner alten Oma meldest. Wie geht’s dir denn? Und was macht deine Mama? Hat sie noch mit dem Bein zu tun?“ Brigitte lauschte in den Hörer. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Elsbeth beobachtete sie gespannt.
 „Schulden? Aber lieber Junge, Du hast doch eine gute Arbeit! Wie kannst du da Schulden... Oh, natürlich. Helfen? Ja, gerne, aber warum fragst du nicht ... Ach, die hatte einen Rückfall? Oh wie schrecklich. Da muss ich ja gleich anrufen. Nicht? ... Ach, sogar im Krankenhaus? Du meine Güte. ... Ein Freund von dir? Ich soll einem völlig Fremden ... Kannst du nicht selber? .... Ach so, ja dann. Natürlich will ich dir helfen. Schon wegen deiner Mutter. Wann denn? .... Gut, also um Zwei kommt dein Freund, wie heißt der noch? Robert, ja, ist gut. Da kann ich vorher zur Bank, soviel hab' ich ja gar nicht hier. Pass auf dich auf, mein Junge! Tschüß!“ Während sie telefonierte, kam Brigitte ins Zimmer. Sie hörte zu, grinste und nickte hin und wieder.
„Das ist aber nicht der liebe Jürgen von vorgestern, oder?“, wollte Elsbeth wissen
„Nein, das traut der sich nun doch nicht. Das war ein anderer. Trotzdem ganz schön frech, wo gerade in der Zeitung gewarnt wurde.“
„Also echt, wenn die senilen Alten Zeitung lesen würden, hätten die Enkel keine Chance, ob die Warnung nun kurz vorher veröffentlicht wird oder nur einmal im Jahr. Wann kommt er?“
„Um zwei. Wir haben noch Zeit genug.“ Sie wandte sich zum Bad, drehte sich dann aber noch einmal um. „Dieser Glücksfall erlaubt uns, dem alten Sack aus der Zeitung zu helfen und uns unsere Wünsche zu erfüllen. Du bekommst deinen Willen.“

4 Noch ein Besuch
Als es an der Tür klingelte, ging Elsbeth, altmodisch in Kittelschürze und ohne Perücke, zur Tür. Ein etwa 35jähriger Mann, stämmig, gut gekleidet, erschien am Treppenabsatz. Er sah Elsbeth offen ins Gesicht und reichte ihr die Hand.
„Guten Tag, ich bin Robert. Robert Schulz. Ihr Enkel schickt mich.“
Elsbeth reichte ihm die Hand. „Aber immer herein, mein Lieber. Ein Freund von unserem Jürgen ist uns immer willkommen.“
Hinter ihr öffnete sich die Küchentür. Brigitte erschien. „Wie möchten Sie Ihren Kaffee? Milch, Zucker?“
Robert schien nicht besonders überrascht, dass er es plötzlich mit zwei Frauen zu tun hatte. Er lächelte Brigitte an. „Zucker bitte, sonst schwarz.“
„Ich bin die Oma vom Jürgen“, klärte Brigitte ihn dennoch auf, „und das ist die Großtante.“
Im Wohnzimmer nahm er unaufgefordert auf dem Sofa Platz. Elsbeth sah ihn lächelnd an. „Und woher kennen Sie unseren Jürgen?“
„Aus dem Sportverein, wie spielen zusammen Badminton.“
Klasse, dachte Elsbeth. der legt sich ja richtig fest, „Ja, kann er das denn mit seiner Bandscheibe? Ich dachte, er darf gar keinen Sport mehr machen!“ Mal sehen, wie der Typ damit zurecht kam.
„Ja, wissen Sie nicht, dass er vor einem halben Jahr operiert wurde?“
Brigitte erschien mit dem Kaffee, verteilte die Tassen und setzte sich in den freien Sessel. „Operiert?“, fragte sie. „Das wussten wir ja gar nicht. Dabei schreibt uns Mathilde doch eigentlich so oft. Aber das hat sie nicht erwähnt.“
„Hat denn Jürgen inzwischen abgenommen? Er war doch so dick, und Sport ist ja nun eigentlich gar nicht seine Sache!“ Wie würde er sich da heraus reden?
Robert sah Elsbeth ruhig an. „Oh ja, das hat er. Nach der Bandscheiben-OP hat er sich das Fett absaugen lassen.“
„Das ist ja unglaublich!“ Elsbeth war beeindruckt. Der war gut, der neue Enkelfreund, richtig gut. Sie begegnete seinem Blick lächelnd. „Und das trotz seines Herzfehlers? Das muss doch sehr gefährlich gewesen sein.“ Sie bückte sich zu ihrem Beutel, der neben dem Sessel stand.
Plötzlich hatte Robert eine Pistole in der Hand, die er auf Elsbeth richtete. „Den Beutel stehen lassen! Und für Jürgen ist nichts gefährlich, weil es ihn gar nicht gibt.“
Elsbeth erstarrte, Brigitte ließ vor Schreck ihre Tasse fallen, die klirrend auf dem Tisch zerschellte. Langsam richtete sich Elsbeth wieder auf.
„Was soll das?“, fragte sie ihn. „Reicht der Enkeltrick nicht mehr? Rauben Sie nun die alten Leute auch mit Waffen aus?“ Wie konnte sie jetzt an ihre wundervolle Requisite kommen?
Robert lehnte sich im Sofa zurück. „Wer raubt hier wen aus? Sie haben meinen Kumpel ausgenommen!“ Er sah Elsbeth böse an.
Brigitte schlug sich die Hand vor den Mund, starrte Robert aus großen, ängstlichen Augen an und ließ ein Stöhnen hören. Dieser beachtete Brigitte gar nicht, sondern konzentrierte sich auf Elsbeth.
„Ihren Kumpel?“ Elsbeth sah Robert kalt und überlegen an. „Daniel war Ihr Kumpel? Machen Sie das zu zweit?“
„Das geht Sie nichts an. Sie haben sich mit dem Falschen angelegt. Wir wollen unser Geld wiederhaben.“
Brigitte gab ein Quietschen von sich, Elsbeth aber blieb ruhig. „Tut mir leid. Aber wenn Ihr Daniel Ihnen von uns erzählt hat, dann ja wohl auch, dass wir das Geld an die Geschädigten zurückgeben.“
„Ach, ne? Und wie finden Sie die?“
„Daniel hat uns die Adressen gegeben. Der Rest war leicht.“ Elsbeth hatte sich vorgebeugt. So leicht würde sie nicht aufgeben.
„Das hat er nicht, ich habe ihn ausgequetscht. Sie haben das Geld behalten! Sie sind auch nicht besser! Und ich will es nun wieder. Zehntausend und die Dreitausend, die Sie uns geben sollten.“
„Soviel haben wir nicht!“ Elsbeth wurde wütend. „Was glauben Sie, warum wir Ihren Daniel um seine Beute erleichtert haben? Unsere Rente reicht nicht! Das Geld ist längst ausgegeben!“
Robert stand auf. „Ach? In zwei Tagen? Sie haben es sicher noch hier, wo ist es?“
Er trat an den Schrank, riss die Türen auf und wühlte im Inhalt. Papiere segelten zu Boden, Hefte fielen heraus. Elsbeth bemerkte, dass er sich alle paar Augenblickte zu ihr umdrehte. Er zog einen Umschlag aus dem Schrank und sah hinein. Der Umschlag war leer.
„Wo ist das Geld?“ Er dreht sich um, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie sich Elsbeth wieder zu ihrem Beutel bückte. „Stop! Denken Sie nicht mal dran.“ Er nahm ihr den Beutel aus den Händen, durchwühlte ihn und brachte die kleine Pistole zum Vorschein. Er steckte sie sich in den Hosenbund.
„Also los! Was haben Sie mit dem Geld gemacht?“
Elsbeth gab einen gepeinigten Laut von sich und sackte in ihrem Sessel zusammen. „Bank!“ stöhnte sie. „Wir haben's auf's Sparbuch gebracht!“
Robert fauchte wütend. „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet!“ Er setzte sich auf das Sofa und sah Elsbeth aufgebracht an.
Brigitte hatte sich in ihrem Sessel ganz klein gemacht, blickte ängstlich von Elsbeth zu Robert und gab keinen Laut von sich.
Robert entschied sich. „Ok, Sie“, er zeigte mit der Pistole auf Brigitte, die aufjapste, „Sie gehen zur Bank und holen das Geld.“ Er wandte sich wieder zu Elsbeth „und Sie bleiben mit mir hier, damit Ihre Schwester nicht auf dumme Ideen kommt!“
Brigitte jaulte leise auf. Es half nichts. Robert zwang sie, aufzustehen und sich einen Mantel anzuziehen. „Wenn Sie in einer halben Stunde nicht wieder da sind, ist die da dran! Das verspreche ich! Machen Sie ja keinen Blödsinn!“ Brigitte krümmte sich unter ihrem Mantel, sah ihn eingeschüchtert an und nickte stumm.

5 Die Nachricht
Im Wohnzimmer fixierte Robert die große Uhr, die an der Wand hing. Hin und wieder blickte er zu Elsbeth, die stumm, den Blick gesenkt, in ihrem Sessel saß. Die Stille wurde durch ein Telefonklingeln unterbrochen. Elsbeth wollte sich gerade erheben, doch Robert stoppte sie. „Halt! Hat das Telefon einen Lautsprecher?“ fragte er sie. Sie nickte. „Gut, anschalten! Ich höre alles mit, vergessen Sie das nicht!“
Elsbeth nahm den Hörer auf und drückte auf eine Taste. Sie hörten Geräusche wie aus eine großen Halle: undeutliches Gemurmel, fernes Geklapper, leise Schritte. „Elsbeth Somberg“, meldete sie sich.
„Frau Somberg? Hier ist das Diako. Schwester Sabine am Apparat. Frau Brigitte Somberg ist Ihre Schwester?“ Die Stimme der Frau klang resolut und professionell.
„Ja“, hauchte Elsbeth. Sie sah angstvoll zu Robert.
„Ich muss Ihnen leider sagen, dass Ihre Schwester einen Zusammenbruch hatte und nun bei uns liegt.“
„Was?“, gurgelte Elsbeth. Ihre Hand mit dem Telefonhörer zitterte. Aus dem Hörer war ein entfernter Aufruf zu hören: “Doktor Schütte bitte Station sieben, Doktor Schütte bitte!“
„Sie ist in der Sparkasse an der Waller Heerstraße zusammengebrochen. Herzinfarkt. Sie liegt auf der Intensivstation, nicht ansprechbar. Ich fürchte, es sieht nicht gut aus.“
„Oh, nein, kann ich zu ihr? Kann ich sie sehen?“
„Ja, aber kommen Sie bald.“ Elsbeth legte den Hörer auf und sah Robert unter Tränen an. „Sie haben sie umgebracht! Sie sind schuld!“
Robert starrte sie wütend an, ging mit erhobener Faust auf sie zu, drehte sich dann aber um und schlug mit der Faust immer wieder gegen die Wand. Elsbeth bat ihn mit hängenden Armen: „Bitte, lassen Sie mich zu meiner Schwester!“
Robert lief grübelnd einige Schritte im Zimmer umher. Dann drehte er sich zu ihr um. „Nein, erst gehen wir beide zur Bank. Beide zusammen. Ich will mein Geld haben. Und Sie werden es mir besorgen. Ich bin immer neben Ihnen!“ Elsbeth sah mit großen Augen an. Doch dann nickte sie und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Zitternd nahm sie ihren Mantel und verließ mit Robert die Wohnung.

6 Der Weg zur Bank
Robert fasste Elsbeth am Arm und drängte sie zur Eile. Ein Seitenblick bestätigte ihm, dass sie aufgegeben hatte, mit gesenktem Kopf ging sie neben ihm her. Sie bogen in eine Querstraße ein. Elsbeth begann zu keuchen. Robert nahm keine Rücksicht auf sie und schob sie weiter die Straße entlang. Bald erreichten sie die Einmündung zur Waller Heerstraße. Eine Straßenbahn bremste quietschend, Fahrzeuge rauschten vorbei, Menschen eilten auf den Fußwegen entlang.
Elsbeth blieb stehen und krümmte sich keuchend. „Ich kann nicht mehr! Einen Augenblick!“
Robert hatte nicht vor, sich von diesem alten Weib aufhalten zu lassen. Er zog sie unbeirrt weiter. Sie stöhnte laut auf. Robert sah sie misstrauisch an. „Nun reißen Sie sich mal zusammen!“
Elsbeth presste ihre Hand auf die Brust und setzte keuchend und gebeugt mit kleinen Schritten ihren Weg fort. Immer wieder blieb sie stehen, sodass Robert sie los lassen musste. Sie richtete sich kurz auf, japste nach Luft und lief dann langsam einige Schritte weiter.
Robert wurde unruhig. Er sah sich um. Die Bank war nicht mehr weit, ihr Logo schon zu sehen. Vor der Bank stand eine ältere Frau und kramte in ihrer Tasche.
 „Nur noch ein paar Meter! Also los, jetzt tun Sie mal nicht so!“
Robert fixierte die kramende Frau, stempelte sie aber als harmlos ab. Elsbeth war wieder stehen geblieben. Sie fasste nach Roberts Arm auf der Suche nach Halt. Robert streckte seine Hand aus, doch ihre Knie knickten ein, ihre Hand griff ins Leere. Sie gab ein Piepsen von sich und sank langsam zu Boden.
Robert war fassungslos. Er beugte sich zu ihr herunter und stupste sie an.
„Nein, die nicht auch noch! Stehen Sie auf!“
Elsbeth lag röchelnd auf dem Boden mit verdrehten Augen. Sie atmete schwer, versuchte aber, mit einer Hand an Roberts Schulter, sich aufzurichten. Robert fasste ihre Hand und zog sie daran ein Stück in die Höhe.
„So lassen Sie sie doch liegen!“ Die Frau, die vor der Bank gestanden hatte, eilte zu Robert und Elsbeth. „Ich habe schon den Notarzt gerufen! Hier, legen Sie ihr meine Tasche unter den Kopf. Sie muss ganz ruhig liegen!“
Robert drehte sich aufgebracht um und sah die Frau an. „Wir haben es eilig! Es ist wichtig, dass wir ...“
Die Frau maß ihn mit einem Blick, der ihn zum Verstummen brachte. „Eilig hat es nur der Tod, wenn wir sie nicht liegen lassen! Ist das Ihre Mutter?“
Robert schüttelte den Kopf. „Nein, meine Großmutter. Es geht ihr sicher gleich wieder besser.“ Er starrte Elsbeth an.
Wie als Antwort stieß sie einen langen Seufzer aus und ihr Kopf fiel kraftlos zur Seite.
„Mein Gott, sie atmet nicht mehr!“ rief die Frau.
Sie schaute hilfesuchend um sich. Einige Passanten gingen achtlos vorbei, andere blieben in sicherer Entfernung stehen und sahen neugierig zu. Ein Notarztwagen raste heran und hielt direkt vor der kleinen Gruppe.
Aus dem Wagen kletterte ein betagter Helfer. Er beugte sich über Elsbeth, fühlte ihren Puls, gab ihr ein paar Klapse auf die Wange.
„Hallo, hallo? Ich bin Notarzt! Können Sie mich verstehen?“ Elsbeth reagierte nicht. „Sie ist tot! Eine Trage!“, rief der Notarzt zum Wagen.
Zwei weitere Helfer stiegen aus, zogen die Trage aus dem Wagen und bahnten sich den Weg durch die Menge an Neugierigen, die sich inzwischen gebildet hatte. Schnell legten sie Elsbeth auf die Trage und schoben diese in den Rettungswagen.
Der Notarzt drehte sich zu Robert um. „Ein Verwandter? Mein Beileid. Ich fürchte, ich bin zu spät gekommen. Wollen Sie mitfahren?“
Robert sah verwirrt von ihm zum Rettungswagen, dessen Türen gerade geschlossen wurden. „Äh, nein, ich fahre hinterher.“
Der Notarzt zuckte mit den Schultern und eilte zum Wagen. Kaum hatte er den Beifahrersitz erklommen, brauste der Rettungswagen davon. Robert blieb fassungslos stehen sah sich hilflos um. Nach forschenden Blicken in sein Gesicht verliefen sich die neugierigen Passanten wieder. Natürlich würde er dem Rettungswagen nicht folgen und womöglich Fragen zu seiner „Großmutter“ beantworten. Scheiße, so sollte das Ganze nicht laufen. Er lief kopfschüttelnd, die Fäuste in den Taschen vergraben, in die nächste Seitenstraße, um auch die letzten neugierigen Blicke abzuschütteln.

7 Das Ende
Der Rettungswagen fuhr in eine Nebenstraße, bog um eine Ecke und hielt am Straßenrand. Das Blaulicht war ausgeschaltet.
Drinnen richtete sich Elsbeth auf ihrer Trage auf. „Ist er hinterher gekommen?“
„Natürlich nicht!“ Der Notarzt drehte sich um und grinste ihr durch ein Fenster zu. „Soviel ich gesehen habe, ist er weggerannt. Aber das wird uns sicher Beate erzählen können, ich glaube, da kommt sie schon.“
Elsbeth entdeckte durch das kleine Fenster im Heck des Wagens die Frau, die vor der Bank in der Tasche gekramt hatte. Sie kam direkt auf den Rettungswagen zu. Der Notarzt stieg aus und öffnete die hintere Tür des Wagens. Elsbeth setzte sich auf und ließ die Beine von der Trage baumeln. Gemächlich klopfte sie sich den Straßenstaub aus dem Mantel.
„Hey, Elsbeth, du warst Spitze, deine Sterbeszenen waren schon immer die besten!“ Die freundliche Helferin strahlte Elsbeth an.
Elsbeth lachte auf. „Eilig hat es nur der Tod...“,deklamierte sie. „Gott, wie lange habe ich das nicht mehr gehört!“
Die Tür des Hauses, vor dem der Wagen gehalten hatte, ging auf. Brigitte und eine weitere, ältere Frau kamen aus dem Haus.
 „Alles geklappt?“, fragte Brigitte.
Elsbeth nickte. „Superidee mit dem Anruf vom Krankenhaus!“
Brigitte lachte auf, hielt sich dann eine Hand als Trichter an den Mund und quäkte: „Doktor Schütte, bitte!“ Sie wies auf die Frau, die sie aus dem Haus begleitet hatte: „Sabines Idee. Ich hab sie gleich angerufen, als ich auf der Straße war. Glücklicherweise war sie zu Hause. Sie hat den Plan entworfen und alle zusammengetrommelt. Und sie wusste, dass Bert und Günther gerade in dieser Rettungsarzt-Serie mitspielen. Die beiden haben offensichtlich noch jemanden gefunden, der den Wagen gefahren hat und schnell kommen konnte. Ihre erste Regiearbeit, echt gekonnt.“
Ein jüngerer Mann stieg vom Fahrersitz. „Darf ich mich vorstellen? Alex Krehmer, Requisiteur bei 'Der Weser-Notarzt'. War mir eine Ehre, bei Ihrer Rettungsaktion mithelfen zu dürfen. Was wollte der Kerl von Ihnen?“
Elsbeth sah Brigitte unsicher an und blickte verlegen zu Boden. „Oh, der wollte den Enkeltrick an uns ausprobieren und wurde dann richtig frech, als wir ihn durchschauten. Da hat er tatsächlich eine Waffe gezogen.“
„Sollten wir nicht die Polizei holen?“ fragte Alex. Er griff zu seinem Handy. Elsbeth wehrte ab: „Oh nein, der glaubt, er hat zwei Frauen auf dem Gewissen. Das ist Strafe genug. Lassen wir ihn laufen.“
Alex sah auf die Uhr und rief den beiden anderen Männern zu „Wir müssen los, die Szenen mit dem Wagen und euch als Kranken sind jetzt gleich dran!“
Elsbeth wandte sich an die Umstehenden. „Vielen Dank euch allen, ihr wart klasse! Ohne euch hätten wir das nicht geschafft! Ihr seid alle nächsten Sonntag zum Essen eingeladen! Dann erzählen wir die ganze Geschichte.“

Brigitte und Elsbeth saßen in ihrem Wohnzimmer. Brigitte schob einige Geldscheine in einen Umschlag. „Wie hieß der noch?“
„Anton Verbender!“ antwortete Elsbeth. Sie sah Brigitte ärgerlich an.
Brigitte hielt ihrem Blick stand. „Elsbeth, wer weiß, wann wir den mal brauchen! Wir müssen zusammenhalten, wir alten Mimen.“
„Gut“, Elsbeth hob die Hand, „ist ja gut. Ich sag' ja auch schon nichts mehr. Geben wir dem alten Knacker ein bisschen Geld zurück.“
Das Telefon klingelte. „Elsbeth Somberg“ meldete sich Elsbeth. „Wer da ist?“ schrie sie dann, „vermutlich ein Idiot, der bei mir den Enkeltrick versucht, weil ich einen altmodischen Vornamen habe?“ Sie sah den Hörer ärgerlich an. „Mistkerl,“ meinte sie zu Brigitte gewandt. „ich glaub', ich hab erst mal genug von Enkeln.“